Herbst 2014 – ich war Mitten in Abschlussprüfungen und entdeckte oberhalb dem linken Ohr eine kahle Stelle. «Was soll’s», dachte ich mir. Ich hatte bereits fünf Jahre zuvor eine kahle Stelle am Hinterkopf, ungefähr ein Zweifrankenstück gross. Diese kahle Stelle verschwand damals mit Hilfe einer Kortison-Spritze. Ich war sicher, dass auch die neue kahle Stelle ohne Dazutun verschwinden würde.

 


2014 Vor der Alopecia Areata

 

Doch falsch gedacht, eine zweite Stelle auf der rechten Kopfhälfte und eine dritte Stelle am Hinterkopf folgten. Als ich wegen etwas Anderem bei meinem Hausarzt war, habe ich ihn darauf angesprochen. Er fragte, ob ich zu einem Dermatologen möchte. Ich verneinte, da ich wirklich sicher war, dass die Haare bald wieder nachwachsen würden.

Rund zwei Monate später, als weiterhin Haare ausfielen, wendete ich mich an einen Spezialisten. Dieser spritzte mir Kortison direkt in meine Kopfhaut. Es schmerzte noch einige Tage später. Ich war voller Hoffnung. Nach mehreren Sitzungen beim Dermatologen änderte sich nichts positiv. Meine kahlen Stellen wurden immer grösser und nun reagierte ich noch allergisch auf das Kortison. Der Dermatologe überwies mich an die Dermatologie des Inselspitals Bern. Hier wurde mir vorgeschlagen mit einer Therapie, welche das Immunsystem schwächt, zu beginnen. Die Heilungschance lag bei knapp 40 % und die möglichen Nebenwirkungen waren enorm. Ich lehnte die Therapie ab und wurde dafür in eine Studie aufgenommen. Mir wurde Blut entnommen, dieses zentrifugiert und die weissen Blutkörperchen in meine Kopfhaut gespritzt. Nebenbei versuchte ich es mit Alternativmedizin. Alles half nichts. Meine Haare fielen mehr und mehr aus. Dank meiner kräftigen, dicken und vielen Haaren konnte ich die Alopecia Ophiasis gut verstecken. Die Angst, jemand könnte meine kahlen Stellen bemerken war jedoch allgegenwärtig. Nur mein Partner, meine Familie und meine engsten Freunde waren zu diesem Zeitpunkt in meine Alopecia eingeweiht. Aus diesem Grund ging ich nicht mehr schwimmen und jeder Windstoss war mir ein Graus.

 

Langsam aber sicher machte ich mir viele Gedanken und informierte mich online über die Krankheit. So kam ich zum Verein Alopecia Areata Schweiz. Romina Rausch, Präsidentin des Vereins, telefonierte lange mit mir und gab mir neue Sicherheit und Kraft. Mein Partner, heutiger Ehemann, begleitete mich Ende 2016 an ein Vereins-Treffen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie unglaublich gut es tat, andere Menschen mit der gleichen Krankheit zu treffen. Der Austausch, dieses Verständnis, alles war enorm vertraut. Das Treffen inklusive Fotoshooting für die Vereinswebseite haben mir Mut gemacht und mich gestärkt. Als am 24. Dezember die neue Webseite online ging, wusste ich, dass ich dazu mein Foto auf Facebook veröffentlichen und meine Alopecia allen zeigen wollte. In der Nacht vorher konnte ich vor Aufregung kaum schlafen. Am morgen früh stellte ich das Bild online und wartete gespannt auf die Reaktionen. Es dauerte keine fünf Minuten und das Foto wurde mit Likes und positiven Kommentaren überhäuft. Balsam für meine Seele. Die Leute schätzen und mögen mich so, wie ich wirklich bin! Sie finden mich sogar stark. Wow, das tat enorm gut und ich konnte daraus neue Energie schöpfen.

 


2016 Alopecia Treffen

 

Trotzdem versteckte ich meine Lücken weiterhin. Irgendwann hatte ich genug, genug von dieser Ungewissheit ob und wann die Haare wieder kommen und diesem ständigen hoffen. Ich schloss für mich persönlich mit all den ärztlichen Versuchen ab – wollte unbeschwert ins 2017 starten. Da ich ahnte, dass mein Haarausfall weitergehen würde, bestellte ich eine Perücke. Lang und dicht sollte sie sein, so wie meine Haare meist waren. Das lange Warten wurde dann glücklicherweise mit Ferien verkürzt.

Wie sehr hatte ich mich auf unsere Australien-Ferien gefreut. Doch die Reise brachte erste Herausforderungen. Sobald es heiss war schwitzte ich enorm auf den kahlen Stellen und die Resthaare klebten an meiner Kopfhaut. Ich durfte erste Probemodelle der Kopfrausch-Kollektion ausprobieren und entschied mich für zwei Varianten, die mich auf unserer Reise begleiteten. Ich war fast täglich mit diesen Kopfbedeckungen unterwegs und fühlte mich wohl.

 


In Sydney mit Kopfbedeckungen von Kopfrausch

 

An einem einsamen Strand bekam ich die Frage aller Fragen gestellt. Mein Partner fragte mich, ob ich ihn heiraten möchte. Ich war so überglücklich und habe natürlich sofort ja gesagt. Auf unserem Verlobungs-Selfie sieht man eine meiner kahlen Stellen. Es war mir ganz egal, dass diese sichtbar war. Ich wollte es in die Welt hinausschreien, dass wir heiraten werden. Dabei war ich sicher, wenn ihn meine Alopecia nicht stört, wieso soll es dann mich stören.

 


Februar 2017 Verlobung in Australien

 

Zum Ende der Reise wusste ich, dass es zurück in der Schweiz Zeit wird, die Resthaare abzuschneiden. Daheim habe ich mir selbst mit der Schere die Haare abgeschnitten und mein Partner rasierte mir den Rest ab. Ich fürchtete mich immer vor diesem Schritt und plötzlich war es soweit. Ich verspürte eine enorme Erleichterung. Sofort wollte ich wiederum meine Freunde und Bekannten informieren und postete ein Foto davon auf Facebook. Dazu stellte ich den Text online, an dem ich seit rund einem halben Jahr schrieb. Nun also war es Zeit die finale Fassung zu veröffentlichen. Auch mein gesamtes Arbeitsumfeld informierte ich mit diesem Foto und einigen Zeilen. Trotz den vielen positiven Rückmeldungen hatte ich Angst vor dem nächsten Tag und mich so unter Leute zu mischen.

 


Abschied von meinen Haaren Februar 2017

 

Ich getraute mich nur mit einer Mütze (es war zum Glück Winter) aus dem Haus. Auch im Büro behielt ich diese an. Einer meiner Arbeitskollegen meinte noch, weshalb ich mich nicht ohne zeige, dass spiele doch keine Rolle. «Geht’s eigentlich noch», dachte ich. Ich wollte nicht auffallen oder jemanden stören. Also zog ich immer brav meine Kopfbedeckung an. Nach rund einer Woche durfte ich dann meine Perücke abholen und war ganz stolz. Alle waren total begeistert ausser ich und mein Verlobter. Er fand es einfach nur schrecklich, ich schmecke nicht mehr nach mir und das sei einfach nicht ich. Auch ich konnte mich nicht mit meinen neuen Haaren anfreunden. Immer hatte ich Angst, dass jemand bemerkt, dass es eine Perücke ist. Dieses Gefühl des Versteckens, welches ich mit den kahlen Stellen hatte, kam wieder hoch. Zudem war es heiss und diese Metallstäbe in der Perücke fühlten sich nicht gut an.

 


Februar 2017 mit Perücke

 

Zu Hause war ich meist oben ohne unterwegs und als es einmal klingelte und der Postbote vor der Tür stand, hatte ich dies ganz vergessen. Ich bemerkte es erst, als er wieder weg war. Dies war für mich ein Zeichen. «Hei, der hat ja gar nicht blöd geguckt. Weshalb also nicht so aus dem Haus? », dachte ich. Von nun an getraute ich mich immer öfter die Mütze auszuziehen. Und es fühlte sich richtig gut an.

 


März 2017 ohne Haare

 

Klar starrten mich Menschen an, aber ziemlich schnell blendete ich diese aus. Eine tolle Begegnung hatte ich in einem Einkaufszentrum, als mich ein kleines Mädchen ansprach und fragte, weshalb ich keine Haare hätte. Ich teilte ihr mit, dass ich an Haarausfall leide und leider keine Haare mehr wachsen. Sie überlegte, schaute mich an und sagte mit einem Strahlen, dass ich trotzdem eine wunderschöne Frau sei. Eine weitere tolle Begegnung, welche ohne Alopecia nie stattgefunden hätte, fand auf dem Weg an ein Alopecia-Treffen in Deutschland statt. Im Zug sprach mich ein Herr an, wohin ich denn reise. So kamen wir auf meine Krankheit zu sprechen und er gab mir die Telefonnummer seiner Tochter, welche auch an einer Autoimmunerkrankung leidet und mit welcher ich noch heute in Kontakt stehe. Es sind genau solche Begegnungen, die mir so viel geben und mein Leben bereichern!

Ich konnte meine Krankheit endlich akzeptieren und auch mein Umfeld stand voll und ganz hinter mir. So kam es, dass im Herbst 2017 langsam aber sich wieder Haare zu wachsen begannen. Anfangs rasierte ich diese noch ab, doch je näher die Hochzeit rückte, desto grösser war meine Hoffnung auf eine «richtige» Frisur.

Es folgte oft die Frage, was ich denn an der Hochzeit mit meinen Haaren machen würde. Ich wusste keine Antwort und die Frage löste oft Unsicherheit und Tränen aus. Ich hatte einfach keine Ahnung und Furcht vor dieser Entscheidung. Auch Angst, nicht hübsch auszusehen. Der grosse Tag kam näher und näher und ich wusste innerlich, dass ich einfach so auftreten werde, wie ich bin – mit meinen Stoppelhaaren und den kahlen Stellen. Alles andere, ob mit Tuch oder Perücke, wäre nicht ich gewesen. Ich wusste, ich gefalle meinem Partner so am besten und er liebt mich so, wie ich bin. Ich bin ihm noch heute unheimlich dankbar dafür. Wir durften im Mai und Juni 2018 eine traumhafte Hochzeit feiern. Ich liebe es die Fotos anzuschauen. Auch mit kahlen Stellen gefalle ich mir ganz gut. Das wichtigste ist aber, ich war glücklich und durfte mich selbst sein.

 


Mai 2018 Zivile Hochzeit


Juni 2018 Kirchliche Hochzeit

 

Ich liess meine Haare wachsen, merkte jedoch im Herbst bald einmal, dass am Hinterkopf vermehrt Haare ausfielen. Als die kahlen Stellen wieder grösser wurden entschied ich mich Ende Jahr wieder alles abzurasieren. Aktuell bin ich wieder ein «Glatzköpfli».

Das ewige Auf und Ab ist nicht leicht und es gibt dunkle Tage, an denen ich mir die Frage stelle, wieso habe ausgerechnet ich dieses Schicksal erhalten? Und dann bin ich dankbar, dass ich nur dieses Schicksal erhielt und sonst gesund bin. Es sind «nur» Haare, es tut nicht weh und alle meine Liebsten akzeptieren mich so wie ich bin. Ich versuche ganz nach dem englischen Motto «let your heart design you, not your hair» zu leben.

Wie auch immer es weitergehen wird, hoffe ich sehr, dass ich zur Aufklärung von Alopecia beitragen kann.

Herzlichst, eure Mirjam