Wie meine Vorgängerinnen in diesem Blog, bin auch ich von Alopezia betroffen und laufe heute selbstbewusst «oben ohne» durchs Leben. Doch das war nicht immer so. In den letzten 15 Jahren habe ich mich viel mit Haaren, bzw. was eben mit einem und dem Umfeld passiert, wenn man – oder ganz spezifisch Frau – keine Haare mehr hat, beschäftigt.

Was tut man, wenn langsam die Haare ausfallen? Wann braucht man eine Perücke und wie funktioniert das überhaupt? Wie sag ich es meinem Umfeld? Wie reagieren mein Arbeitgeber und meine Kollegen? Bin ich noch attraktiv? Sind Haare überhaupt wichtig?

Mit zirka 25 Jahren entdeckte ich per Zufall eine kleine runde Stelle am Hinterkopf, welche kahl war. Sie war etwa so gross wie eine Fingerbeere. Das war für mich damals weder Besorgnis erregend noch beängstigend. Bei einem Besuch beim Dermatologen bekam die kahle Stelle einen Namen: Kreisrunder Haarausfall. Zuvor hatte ich noch nie davon gehört. Ich bekam kortisonhaltige Cremes verschrieben und es sprossen bald wieder kleine feine Härchen. Der Erfolg war jedoch nicht nachhaltig und die haarlose Stelle wurde bald wieder grösser und eine zweite gesellte sich dazu. Nach einigen Versuchen mit verschiedenen Cremen und Dosierungen wurde ich in die Haarsprechstunde ins Universitätsspital Zürich überwiesen. Die kahlen Stellen breiteten sich immer mehr um meinen Hinterkopf aus. Dank der dichten noch verbleibenden Haare konnte ich das gut kaschieren.

 


Abbildung 1: alles noch echt

 

In der Haarsprechstunde habe ich mit der topischen Immuntherapie mit DCP (Diphenylcyclopropenon) begonnen. Das ist genauso fies und unangenehm, wie es sich anhört. Dabei wird die Kopfhaut mit DCP sensibilisiert, was nichts anderes ist, als eine juckende Kontaktallergie auszulösen. Zudem darf man die Haare erst nach 3 Tagen wieder waschen, was das Styling der noch verbleibenden Haare auch nicht einfacher macht.  Neben der ungewissen psychischen Situation und der unangenehmen, juckenden Kopfhaut, haben auch die wöchentlichen Termine bei der Haarsprechstunde zu Stress geführt. Diese fand jeweils Montagnachmittags ab 14 Uhr statt und die Termine am späteren Nachmittag waren sehr beliebt und jeweils rasch weg. Ich hatte eine Vollzeit-Anstellung rund 50 Fahrminuten von der Haarsprechstunde entfernt, so dass ich zu Beginn jede Woche, später jede zweite Woche am Montagnachmittag früher gehen musste. Der Arbeitgeber reagierte äusserst verständnisvoll und wenn ich mal wieder den 14.30 UhrTermin gekriegt habe, konnte ich auch von zu Hause aus noch etwas Arbeit verrichten. So blieb ich beruflich am Ball und erste Erfolge der Behandlung stellten sich ein. Das ganze Leiden hat sich also gelohnt.

Privat ging es mir sehr gut. Meine Familie und meine Freunde haben mich während dieser ganzen schwierigen Zeit unterstützt. Sie sind mir beigestanden und haben mich aufgeheitert. Sie waren – und sind es noch immer – stets für mich da, ganz egal wie es auf meinem Kopf aussieht. Aber ich kannte niemanden in einer ähnlichen Situation. Übers Internet kam ich in Kontakt mit einer Frau, die auch Alopecia Areata hat und eine Perücke trug. Wir trafen uns und sie erzählte mir, wie es bei ihr war und wie das mit Perücken überhaupt funktioniert – alles Neuland für mich. Die Perücke war aber immer noch weit weg, schliesslich sprossen ja wieder kleine feine Haare.

Zudem war ich nach einer gescheiterten Partnerschaft wieder frisch verliebt. Ich habe meinem neuen Partner erklärt, wie es mit meinen Haaren so aussieht und das war – und ist – völlig ok für ihn. Der Rausch der Hormone hat sich aber nicht auf mein Haarwachstum übertragen. Im Gegenteil, meine kahlen Stellen wurden wieder grösser und ich hatte nur noch das kinnlange Deckhaar. Sämtliches Volumen war weg. Als ich kurz nach Weihnachten 2009 den ersten kahlen Fleck im Stirnbereich entdeckte, war mir klar, dass ich es nun nicht mehr verstecken kann.

Beim ersten Besuch im Perückenstudio begleitete mich meine Mutter. Selbst mit 30 Jahren brauchte ich für diesen schwierigen Schritt mütterlichen Beistand. Dank der professionellen Beratung und lockeren Atmosphäre hatte ich plötzlich richtig Spass beim Aussuchen und ich habe ein tolles Modell gewählt. Dieses habe ich aber erstmal zurücklegen lassen, denn ich hatte ja noch Haare, war immer noch in der DCP Therapie und noch zuversichtlich, dass sich das Blatt nochmals wendet. Zwei weitere Monate später waren die Haare noch spärlicher und die Perücke musste angepasst werden. Der Anruf im Perückenstudio war sehr schwierig. Selbst heute, fast zehn Jahre später, kann ich mich gut daran erinnern. Ich hatte eine Erkältung erwischt und lag zwei Tage im Bett. Da habe ich mir vorgenommen, anzurufen, sobald es mir wieder besser ging. Nach wenigen Tagen war die Erkältung weg, aber angerufen hatte ich noch immer nicht. Wenn ich nur schon daran dachte, kamen mir die Tränen und ich war nicht im Stande, ein Telefonat zu führen. Ehrlich gesagt, war ich dann auch nicht arbeiten, sondern liess es noch als «Erkältung» durchgehen.

Ich brauchte drei volle Tage bis ich im Stande war mehr oder weniger ohne Heulattacke anzurufen und die Perücke zu bestellen. Doch die Entscheidung war richtig. Eine Woche später stolzierte ich mit neuen, perfekt frisierten Haaren glücklich aus dem Perückenstudio. Das darauffolgende Wochenende machten wir einen Familienausflug nach Wien. So konnte ich mich im kleinen Rahmen mit meinen Eltern, Schwester, Schwager und meinem Freund die ersten Tage an die Perücke gewöhnen. Montags darauf ging ich erhobenen Hauptes damit zur Arbeit. Nur zwei ganz engen Kollegen – ja, Männer, da ich in der männerdominierten Industrie arbeite – habe ich erzählt, dass sie nicht echt sind. Falls getuschelt wurde, dann so, dass ich es nicht mitbekam.

 


Abbildung 2: die erste Perücke

 

Wenige Monate später hatte ich die Chance beruflich für knapp ein Jahr nach Long Island (New York) zu gehen. Ich mag Herausforderungen und erkunde gerne fremde Orte. Ich genoss die Zeit ohne grosse Verpflichtungen neben der Arbeit. Meine Alopezia war aber nicht so entspannt und auch meine Wimpern und Augenbrauen haben sich noch verabschiedet. Dies gefiel mir gar nicht. Als Frau des «Internet-Zeitalters» habe dort nach Hilfe gesucht. Durch ein YouTube-Tutorial habe ich wertvolle Tipps erhalten, wie ich mich auch ohne Wimpern gut schminken kann und in einem Online-Shop habe ich künstliche Augenbrauen bestellt. Ich stiess auch auf eine amerikanische Gruppe mit dem tollen Namen «blad Girls go lunch». Mit einem Treffen hat es zwar nicht geklappt, da war ich zu beschäftigt mit NYC erkunden und Freunde aus der Schweiz bewirten, aber es gab mir das Gefühl, nicht alleine zu sein mit meiner körperlichen Veränderung. Nach einigen Monaten wuchsen die ersten Wimpern wieder. Es war mir vorher nicht bewusst, dass Wimpern neben dem kosmetischen Zweck noch eine weitere wichtige Funktion haben. Beim kleinsten Windstoss, hatte ich feine Partikel im Auge. Zum Glück sprossen sie wieder und ich kaufte stolz eine Mascara. Neben den Wimpern spross aber auch weitere Körperbehaarung, so dass ich gleichzeitig auch einen Rasierer kaufen musste. Die hätten wegbleiben dürfen! Die Augenbrauen kamen bis heute leider nicht wieder und so habe ich jeweils, wenn ich Perücke trug, die künstlichen geklebt.

In NYC ist es im Sommer sehr heiss und man trifft auf allerlei Typen, die auch nicht schräg angeschaut werden. Und so kam es, dass ich das erste Mal in der Öffentlichkeit meine Perücke abnahm, einen Hut kaufte und so durch die Strassenschluchten zog. Es war so angenehm! Ich wurde immer entspannter und habe mich immer öfters mit Hut, Kopftuch oder im kalten Winter nur mit warmer Mütze nach draussen gewagt. Die Reaktionen blieben aus. Ich merkte, dass es niemanden kümmert, ob ich Haare habe oder nicht. Dadurch wurde ich immer mutiger und fuhr sogar ganz «oben ohne» zu Mc Donalds. Die nette Dame am Drive Inn – eine typische amerikanische «big mama» – schaute mich nur an und sagte ganz spontan: «Who needs hair, if you have such eyes…» («wer braucht schon Haare, wenn man solche Augen hat…») Danke! Das hat mir so gutgetan und mich auf meinem Weg bestärkt.

 


Abbildung 3: mit diversen Kopfbedeckungen

 

Nach dem Jahr in New York und weiteren drei Monaten mit dem Zelt durch den Westen der USA und Kanada, kam ich zurück in die Schweiz. Während der Arbeit trug ich Perücke, in der Freizeit immer weniger. So kam es, dass ich nur noch zu festlichen Anlässen meine Haare aufsetzte. Ich hatte sowohl mit Perücke als auch ohne tolle und lustige Erlebnisse.

Eines Tages wurde ich auf dem Bahnhof von einer wildfremden Frau angesprochen. Ob sie mich fragen dürfe, welches Shampoo ich benütze, meine Haare glänzen so schön. Was soll ich da sagen? Meine Kenntnisse des Shampoomarktes sind 2010 stehen geblieben und darum blieb ich bei der Wahrheit. Die Frau war etwas schockiert, mich hat es amüsiert.

Als ich zu einer Hochzeit eingeladen war, brachte ich unseren Sohn zu den Grosseltern. Meine Mutter schaut mich an und sagt: «mit Haaren siehst Du auch noch gut aus». Das hat mir gezeigt, dass ich mit meinem «Glätzi» (so wird es liebevoll von meinem Mann genannt) völlig akzeptiert bin. Ich bin halt einfach die Frau ohne Haare.

Letztes Jahr stand ein Stellenwechsel an. Das war auch haarmässig ein Neustart. Beim Vorstellungsgespräch war ich noch mit Perücke, doch kurz vor Arbeitsbeginn habe ich angerufen und meine Situation geschildert. So kam es, dass ich auch ohne Perücke zur Arbeit ging. Da ich aber beruflich nicht ganz so glücklich wurde, habe ich mich wieder nach etwas Neuem umgeschaut. Diesmal sogar gleich bei der Bewerbung ohne Haare und auch das hat wieder geklappt.

 


Abbildung 4: ganz aktuell

 

Seit etwas mehr als einem Jahr bin ich nun mit Glatze, Hut, Tuch oder Mütze unterwegs und meistens mit positiven Reaktionen. Einzig mitleidige Blicke von fremden Leuten, die denken ich hätte Krebs, nerven, besonders wenn ich mit meinem Sohn (er ist jetzt vier) unterwegs bin. Aber sie wissen es halt nicht besser. So wurden auch öfters meine Eltern oder Freunde angesprochen, ob es mir gut gehe, als ich mal wieder mit Kopftuch oder Glatze bei einem Konzert der Musikgesellschaft auf der Bühne sass. Zu mir selber hat kaum jemand was gesagt.

In der Musikgesellschaft in unserer Gemeinde spiele ich Klarinette und sitze ausgestellt in der ersten Reihe. Zum ersten Mal mit Kopftuch auf die Bühne zu sitzen, hat schon Mut gebraucht. Das erste Mal mit Glatze dazusitzen war ein weiterer Schritt. Da fühlte ich mich schon etwas nackt und man fällt wirklich auf. Doch für meine Musikkollegen war es so normal, da ich in der Probe schon seit Jahren keine Haare mehr aufhabe, dass dies gar nicht bemerkt wurde. In solchen Momenten bin ich dann etwas unsicher, doch es hilft nichts. Dann denke ich mir: «lächeln». Es sind nur Haare und ich habe über die Jahre gelernt, dass es den meisten Leuten egal ist, was und ob ich etwas auf dem Kopf habe.

Ich kriege von vielen Leuten Komplimente, wie positiv ich mit der Haarlosigkeit umgehe. Sie sagen oft, sie könnten das nicht so. Dem stimme ich nicht zu. Eine hypothetische Situation kann man nicht beurteilen. Ich bin nicht aufgewacht und habe entschieden, mit «Glätzi» durchs Leben zu gehen. Es war ein jahrelanger, teilweise schwieriger Prozess. Doch wenn man glücklich sein will, bleibt einem nichts anderes übrig sich so zu akzeptieren, wie man ist, Ängste und Sorgen mit Freunden zu teilen und über lustige Momente zu lachen.

Zum Abschluss ein amerikanisches Sprichwort, welches meine Einstellung und auch mein Leben gut beschreibt:
When life gives you lemons, make lemonade. (Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade daraus).

Herzlichst, eure Andrea