Romina Rausch und Katrin Kreuels leben seit vielen Jahren ohne Haare; sie leiden an Alopecia Areata, kreisrundem Haarausfall. «Lebe deine Veränderung» ist ihr Motto, das sie Gleichgesinnten weitergeben möchten. Sie führen einen Online-Shop und eröffnen bald einen Laden mit nützlichen Produkten für Menschen ohne Haare.
Sie sitzen da, ohne Kopfbedeckung, ohne Haare und lächeln. Die Sonnenstrahlen streifen den zarten Flaum auf dem Kopf von Katrin Kreuels, wärmen die Glatze von Romina Rausch. Sie sehen anders aus als Sekunden zuvor, ihre Gesichter weich, unbedarft und erwartungsfroh wie das eines Babys kurz nach der Geburt, wie eine unbemalte Leinwand. Sie sind junge und lebensfrohe Frauen. Einfach ohne Haare. «Wir Alopecianer haben zwei Gesichter», das sagen die beiden im Gespräch immer wieder. Zwei Gesichter – und mit beiden fühlen sie sich heute wohl.
Romina Rausch war vierzehn Jahre alt, als sie eine kleine, kahle, kreisrunde Stelle am Nacken entdeckte. Diagnose: Alopecia Areata, kreisrunder Haarausfall. Sie würde ihre schönen dunkeln Locken verlieren und das mitten in der Pubertät. «Das Drama war perfekt», erinnert sich die heute Dreissigjährige daheim am Esstisch ihres Bauernhauses in Waldstatt. Mit siebzehn trug sie das erste Mal eine Perücke. In die Lehre im Detailhandel mit Glatze, nein, das hätte sie sich nicht zugetraut. Sie gefiel sich nicht, sie wollte sich den Blicken und Kommentaren nicht aussetzen. Seither sei sie drin, in der Perückenwelt, sagt Romina Rausch. Sie besitzt mehrere Echthaarperücken, die meisten dunkel- und langhaarig. Mittlerweile trägt Sie aber auch genauso gerne ihre selbst designten Kopfbedeckungen.
Katrin Kreuels lebt seit zwanzig Jahren mit Alopecia Areata. In jungen Jahren habe sie alles ausprobiert von Globuli bis zu Kortison. Ob davon etwas geholfen hat, weiss sie nicht. Die Haare wuchsen wieder, «und ich hatte Ruhe». Vor zehn Jahren verlor die heute 35-Jährige erneut Haare. Sie entschied sich für Perücken, fühlte sich aber nie wohl damit. Nur in den Ferien getraute sie sich mit Kopftüchern oder Glatze an die Öffentlichkeit. Und genoss es. «Ich fühlte mich frei.» Das war der Wendepunkt. Die Steinerin informierte ihre Mitarbeitenden – damals leitete sie als jüngste Generation des Familienunternehmens das St. Galler Spielwarengeschäft Zollibolli – über ihre Krankheit und trug fortan auch im Alltag Kopftücher oder Mützen. Sie hat sogar ihren langjährigen Partner mit Kopfbedeckung geheiratet. «Eigentlich habe ich immer warten wollen, bis die Haare wieder wachsen.» Aber sie wuchsen nicht, und irgendwann kam sie zum Schluss, der Grund sei zu dürftig, um zu warten. Seit sieben Jahren trägt Katrin Kreuels Glatze unter ihren Kopfbedeckungen.
Es gibt sie natürlich, diese Alltagssituationen, die leicht peinlich berühren: Wenn der Pöstler klingelt und erschrickt, weil da eine Frau mit Glatze öffnet– oder war’s vielleicht doch ein Mann? «Hast du eine Wette verloren?» las Katrin Kreuels, als sie ein Foto von sich mit Irokesen-Haarschnitt postete. Mit den Jahren haben die beiden gelernt, mit ihrer Krankheit zu leben. «Manchmal wäre es natürlich schon nett, Haare zu haben. Aber wir sind gesund, wir haben einfach keine Haare, es gibt grössere Probleme», sagt Romina Rausch. Die beiden haben den Haarausfall akzeptiert, können offen darüber sprechen, Humor walten lassen, die Vorteile hervorheben. «Wir sind morgens schnell parat und wir sparen Geld für den Coiffeur. Und das Wichtigste: Wir Alopecianer sind nicht wie andere, wir sind speziell.» Alopecianer – das Wort verwendet Katrin Kreuels gerne. Wie die Bezeichnung für eine eingeschworene Gruppe.
Früher gingen die beiden unterschiedlich mit Alopecia Areata um. Romina Rausch suchte den Austausch, fuhr bis nach Deutschland, um andere Betroffene zu treffen. Inspiriert davon gründete sie den Verein Alopecia Areata Deutschland / Schweiz. Katrin Kreuels erhielt viel Unterstützung von ihrer Familie und brauchte den Austausch nicht. «Ich war sowieso der Meinung, das habe sonst niemand.» Das täuscht. Etwa 1,7 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leiden an Alopecia Areata, viele davon verstecken sich, einige wissen vielleicht nicht einmal, dass es sich bei ihrem Haarausfall um eine Krankheit handelt. Romina Rausch erzählt von einer Begegnung mit einer Frau, die offensichtlich eine Perücke trug. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sprach sie an. Die Frau war nicht etwa konsterniert, wie Romina Rausch befürchtete, sondern dankbar. Endlich wusste sie, woran sie war. Und, ein schöner Zufall: Sie lebt nur zwei Häuser von Romina Rausch entfernt.
Auch Romina Rausch und Katrin Kreuels lebten jahrelang nur ein paar Dörfer voneinander entfernt im Appenzeller Hinterland. Kennengelernt haben sie sich erst vor einem Jahr, als Romina Rausch Models für die Produkte ihres Online-Shops suchte. Da entstand auch die Idee zur Zusammenarbeit. Romina Rausch hatte einen Online-Shop, der so schnell wuchs, dass sie die Arbeit nicht mehr allein bewältigen konnte. Jetzt bieten die beiden auf ihrer Seite kopfrausch.com Produkte für Menschen ohne Haare an, sei es infolge Alopecia Areata oder nach einer Chemotherapie: Perückenzubehör, aber auch Wimpern oder Augenbrauen zum Kleben und über die eigene Designer-Plattform «rrby» stylische Mützen und Kopfbedeckungen des eigenen Labels oder von ausgewählten Designern. Viele davon haben selbst mit Alopecia Areata zu tun, sind direkt Betroffene oder Angehörige. «Betroffene zusammenführen, ist uns ein Anliegen: von Betroffenen für Betroffene.»
Im April eröffnen Romina Rausch und Katrin Kreuels ihren Laden an der Schmiedgasse 26 in Herisau. «Unsere Kunden wünschen und brauchen Beratung. Die können wir ihnen aus erster Hand bieten.» Sie stehen in ästhetischen Fragen zur Seite, unterstützen im Umgang mit der Krankheit oder bei Behördengängen, etwa bei der Kostenübernahme durch die IV. Sie wollen zu Veranstaltungen laden, zum Beispiel mit einer Kosmetikerin, die zeigt, wie man sich vorteilhaft schminkt, einem Psychologen, der ein Mutmacher-Seminar leitet oder mit einer Hennakünstlerin, «die unsere Glatzen schön verziert», sagt Katrin Kreuels lachend. Sie freut sich darauf.
Text: Appenzeller Magazin – Christine König / Foto: Appenzeller Magazin, Carmen Wueest